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Systemische Therapie

Die systemische Therapie ist neben der Verhaltenstherapie und den tiefenpsychologischen Therapien eines der wichtigsten psychotherapeutischen Verfahren. Der systemische Ansatz sieht Menschen nicht für sich allein, sondern als Teil eines sozialen Systems.

Systemische Therapie

Die Bezeichnung „Familientherapie“ wird mittlerweile kaum noch verwendet, es wird in der Regel von „systemischer Therapie“ gesprochen, außerhalb des Therapiesettings von „systemischer Beratung“. Die Anwendungsfelder der systemischen Ansätze haben sich im Laufe der Zeit enorm ausgeweitet von der psychotherapeutischen Behandlung des oder der Einzelnen in/mit seinem/ oder ihrem Bezugssystem (Einzel-, Paar- oder Gruppensetting) bis hin zur Verwendung in der Arbeit mit z.B. Teams, Organisationen und sogar ganzen Unternehmen. Die systemische Perspektive kann hier auf ganz unterschiedliche Art und Weise genutzt werden, z.B. in sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt auf Unterstützung und Lösungsorientierung oder in Wirtschaft und Politik in strategischen Fragen, aber auch in Bezug auf verschiedene mögliche Formen des Austauschs und der Zusammenarbeit.

Systemische Fragetechniken

Alle systemischen Fragetechniken haben das Ziel, Informationen über das System zu gewinnen und zu verdeutlichen, dass bestimmte Situationen und Lebensumstände von den einzelnen Mitgliedern des Systems unterschiedlich erfahren werden. Des Weiteren sollen die Systemmitglieder durch die Fragen angestoßen werden, neue Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu erkennen. Die systemischen Fragetechniken dienen somit dem Informationsgewinn, sind aber gleichzeitig auch therapeutische Interventionen.

Zirkuläres Fragen

Bei zirkulären Fragen werden die Mitglieder eines Systems nach den vermuteten Gedanken, Meinungen oder Gefühlen der anderen Beteiligten gefragt.  Diese Technik hat verschiedene Auswirkungen: zum einen muss sich die befragte Person in die Position des anderen hineinversetzen und zum anderen kann der oder die Befragte hierzu Stellung beziehen. Z.B. Frage an die Mutter „Was glauben Sie, denkt Ihre Tochter, wenn Sie mit Ihrem Mann streiten?”

Skalierungsfragen

Durch das Nutzen einer Skala können Unterschiede und Fortschritte verdeutlicht werden, z.B. durch Rangreihen oder Prozentangaben.

Fragen nach Ausnahmen von den problematischen Verhaltensweisen

Die Frage nach Ausnahmen vom Problem kann die Änderbarkeit von als statisch angenommenen Sachverhalten verdeutlichen und im Rückschluss die Bedingungen des Problem-Auftretens klären.

Fragen nach Ressourcen

Oft liegt der Fokus der Aufmerksamkeit ausschließlich auf dem Problemverhalten. Es kann hilfreich sein, Situationen oder Lebensbereiche aufzuzeigen, in welchen sich die Betroffenen wohl und kompetent fühlen und ihnen alternative Verhaltensweisen zur Verfügung stehen.

Hypothetische Fragen

Die Verwendung von Konjunktiven dient zur Hinwendung zu Lösungsoptionen und -möglichkeiten. Z.B. „Was wäre, wenn Sie sich mit ihrem Kollegen oder ihrer Kollegin auf einmal gut verstehen würden?“ „Angenommen, Sie könnten das von Ihnen als Problem empfundene Verhalten bewusst herstellen. Wie würden Sie das tun?“

Wunderfragen

Bei dieser Fragetechnik wird erfragt, woran man erkennen könnte, wenn in der Nacht ein Wunder geschehen und das Problem über Nacht weg wäre. Über diese Frage kann der oder die Befragte eine Lösung des Problems phantasieren und eventuell feststellen, was es benötigt, um diesen Zustand zu erreichen.

Fragen zum Therapierahmen und zur Therapiemotivation

Hier werden Fragen gestellt wie: „Welche Personen gehören zum relevanten System?“ „Welche Mitglieder des Systems sollen an der Therapie teilnehmen?“ „Wer hat bestimmte Erwartungen und Aufträge in der Therapiesituation?“

Refraiming:

Refraiming bedeutet „Umdeuten“. Der Therapeut oder die Therapeutin regt an, Sachverhalte in einem anderen Bedeutungs- und Interpretationszusammenhang zu sehen, damit eine Umdeutung stattfinden kann. Einem Problem oder Symptom wird dadurch ein anderer Sinn gegeben, indem es in einen anderen Kontext (einen anderen Rahmen, englisch: „frame“) gestellt und so eine neue Sichtweise eingeführt wird. Meist gilt eine Person im System als Symptomträger:in und der-/diejenige, der/die „behandelt“ werden soll. Ein Refraiming kann stattfinden, indem diese Person in der Therapie z.B. als der-/diejenige beschrieben wird, der/die anzeigt, dass sich das System in einem Veränderungsprozess befindet.

Die wertschätzende Konnotation:

Die wertschätzende Konnotation kann in allen Phasen der Therapie zum Einsatz kommen. Hier geht es eigentlich weniger um eine konkrete Methode, sondern um eine therapeutische Einstellung und Haltung. Durch die wertschätzende Konnotation zeigt der Therapeut oder die Therapeutin Anerkennung, Wertschätzung und Respekt für das Erleben und Verhalten des Systems und seiner Mitglieder.

Paradoxe Intervention:

Eine paradoxe Intervention bedeutet in der Regel die beabsichtigte Verschreibung des problematischen Verhaltens und ist somit ein Auftrag, der eigentlich das Gegenteil dessen bezwecken möchte, was er besagt (deswegen „paradox“ für „widersprüchlich“). Z.B. könnte der Therapeut oder die Therapeutin dem immerwährend streitenden Paar auftragen, jeden Abend eine Stunde vor dem Abendessen zu streiten – aber nur in diesem Zeitfenster! Oder einer Person, die unter Schlaflosigkeit leidet, zum Wachsein auffordern. Dies soll helfen, Automatismen zu verändern, die gewohnte Sichtweise zu „verstören“. Durch derartige Interventionen gerät das erstarrte, unflexible System wieder in Bewegung und hat die Chance, alte Regeln und Muster zu revidieren und sich neu zu organisieren. Die genaue Formulierung der paradoxen Intervention ist dabei entscheidend, denn sie muss möglichst gut auf den individuellen Kontext der Person angepasst werden, um als Verschreibung glaubwürdig zu sein.

Geschichte, Metaphern, Witze:

Auch durch das Einsetzen von Geschichten, Metaphern und Witzen kann einem System geholfen werden, einen neuen Blickwinkel auf die Situation zu finden. Zum einen können potentielle Widerstände mit dieser Technik umgangen werden und zum anderen hilft es den Systemmitgliedern, sich von der meist ernsten, konfliktbeladenen Situation ein wenig zu entfernen und diese mit Distanz und wenn möglich auch humorvoll zu betrachten.

Soziogramm und Genogramm:

Durch ein Soziogramm lassen sich soziale Beziehungen in einem System grafisch darstellen. Jedes Mitglied des Systems erhält ein Symbol und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern können mit verschiedenen Verbindungslinien dargestellt werden. Mit einem Genogramm können die meist komplexen Informationen über die Vorgeschichte, die Beziehungen und wiederkehrende Konstellationen einer Familie übersichtlich visualisiert werden. Ein Genogramm ist mehr als ein Stammbaum, es kann dem System die eigene Herkunftsgeschichte verdeutlichen und helfen, bestimmte Verhaltensmuster und Regeln, Gewohnheiten und Traditionen im System besser nachzuvollziehen. Es hat sich hierfür eine Zeichensprache mit bestimmten Symbolen bewährt. Das wichtigste bei dieser Methode sind neben dem Informationsgewinn die Geschichten, die zu den Informationen und Daten erzählt werden.

Aufstellung:

Bei einer Aufstellung wird versucht, die aktuelle Situation eines Systems durch eine Art „Standbild“ darzustellen. Dies kann in einer Einzeltherapiesituation mit Objekten (z.B. mit Gegenständen, Spielfiguren oder Stühlen) umgesetzt werden oder aber mit einer Gruppe von Personen. Bei der letzteren Variante sucht die aufstellende Person „Stellvertreter“ für bestimmte Personen oder auch für Symptome seines Problems. Diese Personen stellt er im Raum nach seinem Empfinden auf, so wie er das System zum Zeitpunkt der Aufstellung erlebt, wie sein inneres Bild des Systems aussieht. Wenn die Aufstellung erfolgt ist, werden diese symbolischen Repräsentationen der Beziehungen unter therapeutischer Begleitung betrachtet und gemeinsam auf deutlich werdende Strukturen, Beziehungskonstellationen, Muster, unterdrückte Konflikte u.ä. geblickt. Hierbei spielt das Erleben der aufstellenden Person eine wichtige Rolle, aber auch die aufgestellten Personen können Rückmeldungen geben, wie sie sich in den verschiedenen Positionen fühlen, welche Gedanken und Empfindungen sie als „Stellvertreter:in“ haben.

Abschlussintervention:

Die Abschlussintervention ist ein wichtiges Element in der systemischen Therapie. Am Ende einer Sitzung wird den anwesenden Personen ein Resümee oder eine Aufgabe mit auf den Weg gegeben. Dies kann eine „Verschreibung“ sein, im Sinne einer Hausaufgabe (oft auch als paradoxe Intervention) bis zur nächsten Sitzung oder ein Kommentar. Diese Intervention knüpft an das Geschehen der vorausgegangenen Sitzung an, wertschätzt das System und bringt, wenn möglich, neue Aspekte und Blickwinkel der Sitzung (im Sinne eines Refraiming) mit ein. Die Abschlussintervention sollte eine Balance darstellen zwischen Herausforderung und Bestätigung des Systems und zum kontinuierlichen Ausprobieren und Entwickeln anregen.

Vorgehen in der systemischen Therapie

Das Vorgehen in der systemischen Therapie unterscheidet sich deutlich von anderen psychotherapeutischen Ansätzen. Hier finden Sie Informationen zu Ablauf und Dauer einer systemischen Therapie sowie zu der Definition von Zielen einer systemischen Therapie und der Rolle des Therapeuten oder der Therapeutin.

Ablauf:

Die therapeutische Arbeit erfolgt abhängig von der Problemstellung und den Vorstellungen der Teilnehmer als Einzel- oder Gruppentherapie. Dies bedeutet, dass sowohl mit dem gesamten System als auch mit Teilsystemen oder eben mit einer einzelnen Person gearbeitet werden kann. Die systemische Therapie wendet sich somit an Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen, Organisationen und andere soziale Systeme. Es können auch bestimmte relevante Bezugspersonen nur zu einzelnen Sitzungen eingeladen werden.

Dauer und Sitzungsfrequenz:

Die Dauer von systemischen Therapien kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal genügt schon eine einzelne Stunde, um einen neuen Impuls zu erfahren. Bei lang andauernden Problemen und Beschwerden kann allerdings auch eine mehrjährige Therapie notwendig sein. Die durchschnittliche Dauer einer systemischen Therapie beträgt einige Monate bis zu einem Jahr. Zwischen den einzelnen Sitzungen sind meist zwei bis vier Wochen Abstand. Die systemische Therapie geht davon aus, dass die entscheidenden Prozesse nicht in sondern zwischen den Sitzungen stattfinden. In den Zeiten zwischen den Sitzungen sollen die Mitglieder des Systems neue Erkenntnisse aus den Sitzungen in ihrem Lebensalltag ausprobieren und Hausaufgaben umsetzen. Auf diese Weise übernimmt das System wieder die Verantwortung für Veränderung oder Nichtveränderung.

Zieldefinition:

Die Ziele der Therapie werden von den Mitgliedern des Systems und dem Therapeuten oder der Therapeutin in den ersten Stunden gemeinsam überlegt und festgelegt. Diese Ziele werden im Laufe der Zeit immer wieder überprüft und wenn nötig geändert und angepasst. Ein grundsätzliches Ziel der systemischen Therapie ist die Stärkung der Autonomie und des Selbstwertes jeder einzelnen Person sowie eine Veränderung der leiderzeugenden Beziehungsmuster eines Systems. Dabei soll der Zusammenhalt im System gefestigt und die Kommunikation und der Austausch zwischen den einzelnen Mitgliedern verbessert werden. In der systemischen Therapie findet eine Vernetzung der Probleme mit den Rahmenbedingungen statt, in welchen die Probleme überhaupt erst aufgetreten sind. Durch diese Vernetzung kann die Funktion und die Bedeutung der Probleme im sie umgebenden Beziehungssystem verdeutlicht und überprüft werden, um zu einer Lösung und möglichen Veränderung zu kommen. Im psychotherapeutischen Bereich steht die Behandlung von psychischen Erkrankungen im Vordergrund, im Beratungsbereich die Unterstützung in Entscheidungsprozessen und bei jeglicher Art von Konflikten.

Transparenz des Therapieprozesses:

Die Realitätskonstruktion jedes einzelnen Systemmitglieds wird in der systemischen Therapie wahrgenommen und respektiert. Diese Tatsache und die Ausrichtung der Therapie an den Aufträgen des behandelten Systems machen den therapeutischen Prozess für alle teilnehmenden Personen transparent, d.h. in jedem Moment nachvollziehbar.

Lösungsorientierung in der Systemischen Therapie:

Die systemische Therapie ist eine vorwiegend gesprächsorientierte Methode, was bedeutet, dass die anwesenden Mitglieder des Systems mit dem Therapeuten oder der Therapeutin über die Probleme und Schwierigkeiten sprechen. Diese Gespräche sind jedoch immer lösungs- und nicht problemorientiert, d.h. das Gespräch soll nicht auf das Problem fokussieren, sondern immer mögliche Lösungen im Blick haben, diese entwickeln und greifbar machen. In diesem Sinne werden auch die Stärken und Ressourcen der Beteiligten besonders betont.

Rolle des Therapeuten oder der Therapeutin:

Die Rolle des Therapeuten oder der Therapeutin in der systemischen Therapie ist am ehesten als „impulsgebende:r Fragesteller:in“ oder „Wegbegleiter:in“ zu verstehen. Durch seine/ihre Erfahrung kann er/sie typische Kommunikationsmuster des Systems erkennen und neue Sichtweisen auf eingefahrene Probleme ermöglichen. Die Mitglieder des Systems werden von den Therapeut:innen aktiv in den therapeutischen Prozess miteinbezogen, um neue Lösungen zu entwickeln. Durch den Fokus auf Lösungen wird eine gedankliche Umstellung von den  Therapeut:innen angestoßen. Eine weitere Absicht des Therapeuten oder der Therapeutin ist es, den Mitgliedern des Systems ihre bisher verborgenen Stärken und Ressourcen bewusst zu machen und zu beleben.